24.10.10

Das Paradies und die Biberratten des Herrn Hufnagel


Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, dann denke ich, dass wir Butjer in Lehe damals das Paradies auf Erden zum Spielen hatten. Es war gleich nach dem Krieg und so gab es damals natürlich noch keine öffentlichen Spielplätze. Aber wir waren viele Kinder in unserem Viertel und wir hatten auch unsere Spielplätze. Diese waren sicher nicht so perfekt wie die heutigen, aber für uns waren sie abenteuerlich, wild und sicher auch manchmal gefährlich.  Wir waren jung, unbändig und unsere Eltern hatten auch gar keine Zeit, sich dauernd darum zu kümmern wo wir waren. Die Mütter waren meistens damit beschäftigt, irgendwo etwas Essbares her-zubekommen und  die Männer mussten  arbeiten. Also suchten wir uns unsere eigenen Spielplätze in der Umgebung.  

Da war zuerst einmal der Saarpark. Im Saarpark floss die Aue, man konnte darin Stichlinge und sonstige kleine Wassertiere fangen, die dann ins mitgebrachte Marmeladenglas tun und schon hatte man ein Aquarium zuhause im Zimmer. Das ging zumindest solange gut, bis der Gestank des brackelingen Aue-Wassers der Mutter zuviel wurde und man das Marmeladenglas entsorgen musste.

Oder wir bauten Höhlen im Saarpark. Dabei kam es natürlich immer auf die Zusammensetzung der Gruppe an, die dort spielte, aber da ich als Kind immer lieber mit den Jungen herumtollte, bauten wir natürlich Höhlen für Gangster und Piraten, während die braven Mädchen immer nur Haus und Familie spielen wollten und sich dafür eine Höhle bauten. Sei’s drum, jeder machte das nach seinem Gusto und alle waren glücklich und zufrieden. Es war schon toll so einen Park zum Spielen zu haben.

Das Dollste aber überhaupt war, wenn sich die Gruppen aus den verschiedenen Straßen zu einer  „Straßenkloppe“ verabredeten und dann mit Ästen und Stöcken aus dem Saarpark aufeinander losgingen.  Aber so gefährlich das heute klingen mag, viel ist bei diesen Straßenkloppen nie passiert. Wahrscheinlich war es nur ein leichtes Säbelrasseln, denn um uns gegenseitig richtig zu verhauen, fehlte uns wahrscheinlich dann doch der Mut, waren wir doch alle noch ziemlich jung und so richtig Krach hatten wir mit den anderen ja auch nicht. Ich kann mich jedenfalls an keine einzige Verletzung erinnern und ich denke auch, dass wir damals alle viel zuviel Schiss vor unseren Eltern hatten. Denn, wenn was bei diesen Straßenkloppen passiert wäre, hätte es zuhause wahrscheinlich noch viel mehr „Kloppe“ gegeben, oder man hätte Stubenarrest bekommen und das hätte richtig wehgetan. Also brüllte man nur aufeinander ein, schlug die Stöcke wild durch die Luft und dann vertrug man sich irgendwann auch wieder miteinander.

Genauso ein Abenteuerspielplatz war der Holzplatz von Kistner  am Ende der Luisenstraße. Hier lagerten die großen Balken der Tischlerei Kistner und wir Kinder fanden es herrlich,  dort zwischen den Balken  herum-zuklettern. Auch dort bauten wir Höhlen und Verstecke, schworen uns Blutsbrüderschaften (wobei ich als Mädchen natürlich immer nur ausnahmsweise geduldet wurde) und wir machten dort unsere Mutproben. Wer z.B. auf den höchsten Holzstapel klettern konnte oder sogar dort oben balancieren konnte, ja der war schon mutig und wurde bald Anführer unserer Gruppe. Mädchen kamen da natürlich nicht in Frage, aber ich war ja plietsch und konnte mich anderweitig profilieren.

Ich kannte nämlich einen Mann, der Biberratten züchtete und das war schon etwas ganz Außergewöhnliches. Der Herr Hufnagel, so hiess der Mann, hatte eine Heißmangel auf dem Sülten und da meine Eltern dort öfter etwas mangeln liessen, musste ich manchmal dort hin und die Sachen wieder abholen. Und so lernte ich den netten Herrn Hufnagel näher kennen und der erzählte mir, dass er in seinem Garten an der Geeste Biberratten züchtete.  Wenn ich Lust hätte, könnte ich mir die ruhig mal angucken. Alleine hatte ich vor diesen Viechern natürlich viel zu viel Angst, aber das war natürlich etwas,  womit ich bei den Jungs punkten konnte. Biberratten hatten die nämlich auch noch nie gesehen, da war ich mir sicher.

Die Gärten an der Geeste kannten wir natürlich schon, stromerten wir dort doch auch immer mal entlang, klauten Äpfel am Wegesrand und schauten den Ruderern bei ihrem Training zu. Und so fragte ich dann Herrn Hufnagel, ob ich denn zu ihm auch mit meinen Freunden kommen könnte, um die Ratten anzuschauen. Natürlich sagte er und lud uns schon am nächsten Tag ein, ihn in seinem Garten zu besuchen.

Etwas mulmig war mir schon, hatte ich doch eine Riesenangst vor Ratten, denn ab und zu sah man ja schon mal eine über die Strasse laufen und ich stellte mir dann immer vor, dass sie mir über die Füsse laufen könnte und das war weiß Gott keine schöne Vorstellung. Aber ich wollte ja mutig sein und  vor meinen Freunden angeben, dass mich so eine Ratte ja nun gar nicht beeindrucken konnte. Also erwähnte ich so ganz nebenbei, dass ich jemanden kannte, der Biberratten züchtete und wir uns die ruhig mal aus der Nähe angucken und vielleicht sogar anfassen könnten. Die Neugier war groß und so zogen wir am anderen Tag zum Garten des Herrn Hufnagel, um uns die Ratten anzuschauen.

Wir staunten nicht schlecht als wir die riesigen Biberratten zum ersten Mal sahen. Sie sahen richtig gefährlich aus und vor allen Dingen hatten sie superlange orangefarbene Zähne. Diese machten uns dann doch ein bisschen Angst, so dass keiner auf die Idee kam, so ein Tier auch anfassen zu wollen. Wahrscheinlich hätte das Herr Hufnagel auch gar nicht zugelassen, aber das mussten die anderen  ja nicht unbedingt wissen.

Ich weiß noch,  dass Herr Hufnagel uns erklärte woher die Biberratten stammen und dass sie eine Größe von ca. 65 cm erreichen und zusätzlich noch einen Schwanz von 25-35 cm  haben. Das ganze machte mir diese Viecher nicht gerade sympathischer. Gut, dass sie im Gehege waren, aber die Jungs waren vollauf begeistert und von da ab war ich ein vollwertiges Mitglied ihrer Gruppe. Ich weiß aber bis heute nicht, warum der Herr Hufnagel diese Biberraten gezüchtet hat. Im Nachhinein nehme ich an, dass er sie wegen ihres Felles gezüchtet hat, aber das hat er uns damals nicht verraten.

© Brigitte Ehlers 2010

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