24.11.10

Schön, dass Du bei uns bist!

Diesen Satz höre ich zur Zeit bestimmt 4-5 Mal am Tag und jedesmal freue ich mich wieder darüber. Wer ihn sagt? Meine demente Mutter. Das Leben kann schön sein, aber es kann auch grausam sein und so empfinde ich es im Moment für meine Mutter. Seit 4 1/2 Jahren bin ich nun wieder in meiner Heimatstadt und ich bin wiedergekommen, um meinen damals 86 jährigen Vater bei der Pflege meiner Mutter zu unterstützen. Seit ca. 8 Jahren bahnt sich die Krankheit meiner Mutter ihren Weg und ich habe mich nun entschlossen darüber zu schreiben, weil ich denke, dass viele Menschen sich nicht vorstellen können, wie es ist, dement zu sein oder zu werden und sie nicht wissen wie sie mit diesen Kranken umgehen sollen. Ich konnte es mir auch nicht vorstellen und kann es natürlich immer noch nicht ganz genau, weil ich diese Krankheit Gott sei Dank selbst nicht habe. Aber man weiß ja nie, ob es einen persönlich nicht auch einmal trifft und ich denke, dass ich am Geschehen inzwischen so nah dran bin, dass ich glaube, diese Krankheit ein bisschen besser zu kennen als der, der noch nie mit einem Demenzkranken zu tun gehabt hat.
Alzheimer oder Demenz was stellt man sich darunter vor? Es werden Witze gemacht über diese Krankheit, aber darüber konnte ich noch nie lachen. Otto Normalverbraucher glaubt, na ja die Leute werden erst ein bisschen tütelig, wie wir in Norddeutschland sagen. Sie bringen Dinge durcheinander, vergessen viel und sagen vieles immer wieder, so dass man oft sagt, das hast Du mir doch schon mal erzählt, weißt Du denn das nicht? Nein, sie wissen es nicht, denn sie haben es inzwischen vergessen und so geht es immer weiter. Wie gesagt, bei meiner Mutter fing es vor ca. 6 Jahren an. Eine Operation war gemacht worden und als sie nach der Narkose wieder aufwachte, war sie ein bisschen durcheinander. Wir schoben es auf die Operation bzw. die Narkose und hofften, dass sich das in Kürze schon wieder legen würde. Aber es legte sich nicht. Die Wiederholungen nahmen immer mehr zu , aber wir wollten es auch gar nicht so genau wissen. Es wurde anfangs totgeschwiegen, das heißt, man ging darüber hinweg und sprach nicht weiter drüber. Bis es dann doch zu auffällig wurde und wir setzten uns zusammen und beschlossen, dass wir endlich etwas dagegen unternehmen sollten, denn so konnte es nicht weitergehen. Ich hatte das Gefühl, mein Vater war froh, endlich mal darüber sprechen zu können, denn es muss für ihn auch schlimm gewesen sein, das Fortschreiten der Krankheit zu sehen und nichts dagegen tun zu können.
Ich bekam es damals ja gar nicht so genau mit, denn ich lebte 600 km weit weg von meinem Heimatort und wenn ich mit meinem Vater telefonierte, wurde darüber nicht gesprochen, weil er mich damit nicht belasten wollle. Erst als ich mal einige Wochen zuhause Urlaub machte, stellte ich die gravierenden Veränderungen auch fest.
Aber was konnte man tun? Der Arzt meinte, es handelt sich um eine normale Altersdemenz, da könne man nicht viel machen. Mein Vater und ich machten uns aber doch auf die Suche im Computer. Er, der mit 80 Jahren damit noch angefangen hatte, war inzwischen relativ fit im Umgang damit und was Medikamente und Krankheiten anging, so wusste er, wo man suchen musste.Und er wurde fündig. Es gibt inzwischen Medikamente, die die Krankheit zwar nicht heilen können, aber in vielen Fällen können sie das Fortschreiten verlangsamen. Nun begann der Kampf, einen Arzt zu finden, der dieses relativ teure Medikament auch verschreibt, denn viele Ärzte weigern sich, weil sie der Meinung sind, das Medikament würde doch nichts bringen. Aber schliesslich fanden wir einen Arzt, der uns das Medikament verschrieb und wir sind auch bis heute der Meinung, dass dieses Medikament das schnelle Fortschreiten der Krankheit erheblich aufgehalten hat.
Ich ging inzwischen in meinem damaligen Wohnort zu einem Seminar über Demenzkranke und ich muss sagen, dass es mir sehr viel weiterhalf. Plötzlich verstand ich warum Demenzkranke auf einmal ihre Wohnung nicht mehr als ihre Wohnung ansahen und warum sie sich nicht mehr darin zurecht fanden. Demenzkranke gehen Schritt für Schritt wieder geistig in die Jahre ihrer Jugend zurück und da ist es klar, dass die heutige Wohnung nicht ihre Wohnung ist.
Aber so weit war es ja noch nicht mit meiner Mutter. Gott sei Dank! Aber man bekam nun eine Ahnung, was auf einen zukommen könnte. Und mit diesem Wissen war es für mich klar. Ich musste so schnell es ging, aufhören zu arbeiten und in meine Heimat zurückgehen. Allein konnte mein Vater es nicht schaffen. Doch so leicht ist es heute nicht, den gesicherten Arbeitsplatz einfach aufzugeben und so blieb nur die Hoffnung, dass es für mich die Möglichkeit gab, einige Jahre früher in die Altersteilzeit zu gehen und somit früher als normal aus dem Berufsleben auszusteigen. Und auf einmal war ich froh, dass ich einen Behindertenstatus hatte. Nun brachte es mir doch den Vorteil, dass ich schon mit 60 Jahren ohne Abstriche in Rente gehen konnte. Und durch die Altersteilzeit gab es vielleicht auch die Möglichkeit schon einige Jahre vorher aufzuhören. Ich musste nun nur noch meinen Arbeitgeber von der Dringlichkeit meines Wunsches überzeugen und dann musste es gehen. Anstatt der gewünschten und üblichen 5 Jahre bewilligte er mir zwar nur 3 Jahre, aber da die Situation dringlich war, gab ich mich damit zufrieden. Eigentlich war ich dann doch glücklich über diese Möglichkeit, denn nun konnte ich kurzfristiger planen und ich konnte auch schon früher nach Bremerhaven zurückgehen.
2006 war es dann soweit und ich bezog eine Wohnung im Nachbarhaus meiner Eltern. Mein Bruder, der auch bis dahin schon eine große Hilfe für meinen Vater war, half nun auch mir, damit der ganze Umzug relativ schnell über die Bühne ging. Und nun ging es los. Ich merkte schnell, was mein Vater bis jetzt geleistet hatte, war unvorstellbar. Er, der selber nicht 100 %ig fit war, ging auf in der Betreuung und Pflege meiner Mutter. So liebevoll wie er sie betreute und dabei immer darauf bedacht war, dass sie ihre Würde behielt, das ist einfach bewundernswert. Früher hatten wir Hausangestellte. Meine Eltern waren selbstständig und er musste nie etwas im Haushalt machen. Aber schon kurz nachdem die beiden in Rente gingen, half er im Haushalt mit und übernahm mindestens die Hälfte der Arbeit. Ich war damals schon sehr überrascht, weil ich damit gewiss nicht gerechnet hatte.
Früher fuhren meine Eltern über 15 Jahre zum Überwintern nach Spanien und das hatte sie meiner Meinung nach jung gehalten. Sie waren tolerant und offen für alles Neue und ihre Freunde waren nicht selten viel jünger als sie. Aber nun konnten sie auf einmal nicht mehr in ihr geliebtes Feriendomizil fahren und gerade mein Vater litt darunter sehr. Meine Mutter litt darunter weniger, vergaß sie doch jetzt auch die schönen Zeiten, die sie dort verbracht hatten. Und wie gesagt, mein Vater tat nun alles, um meiner Mutter das Leben leichter zu machen. Er machte den ganzen Haushalt alleine und versorgte meine Mutter so, wie es nur ein liebender Ehemann machen kann.

Nachdem ich das Seminar besucht hatte und er sich auch auf dem Computer weiter über diese Krankheit schlau gemacht hatte, wussten wir nun, wie wir mit der Krankheit umzugehen hatten. Als erstes mussten wir lernen, dass man keine „Wer-, wie-, was-, warum-Fragen“ stellte, denn so brachte man den Kranken nur in Verlegenheit, wenn er die Fragen nicht beantworten konnte. Auch wenn es für meinen Vater nicht einfach war, so beschlossen wir, auch den Freunden und Bekannten von der Krankheit zu erzählen und sie zu bitten, diese Fragen nicht zu stellen. Denn eins war klar, wir wollten meine Mutter solange es nur ging, mit aus dem Haus nehmen und an Treffen mit Freunden und Verwandten weiterhin mit ihr zusammen teilnehmen. Da war es doch nur selbstverständlich, dass man die Leute aufklärte und eigentlich funktionierte es auch ganz gut. Eines nämlich können Demenzkranke ganz famos. Sie können ihre Krankheit verbergen wie die Weltmeister. Wenn sie Fragen gestellt bekommen, die sie nicht beantworten können, dann lenken sie ganz schnell ab vom Thema und reden über etwas anderes. Und so kommt es nicht selten vor, dass Fremde und sogar auch Freunde den Zustand der Krankheit zu Anfang gar nicht mitbekommen. Aber wir hatten nun die meisten davon unterrichtet und so gingen die Treffen ohne große Peinlichkeiten vonstatten. Und es ist wichtig für die Kranken, dass sie nicht heimlich versteckt werden. Sie können so noch lange am aktiven Leben teilnehmen und ich denke meiner Mutter und auch meinem Vater hat das sehr geholfen. Meine Mutter hat bis vor einem Jahr an diesen Treffen teilgenommen und Fahrten zum Kaffeetrinken ausserhalb haben wir noch bis vor einem halben Jahr unternommen.
Nachdem ich nun da war und die beiden ein bisschen unterstützen konnte, war es für mich auch schön, die Zeit mit ihnen zu verbringen. War ich doch 40 Jahre von zuhause weg gewesen, so ist es jetzt für mich wunderschön, die viele Zeit mit meinen Eltern zu verbringen. Wir hatten immer ein sehr gutes Verhältnis zueinander und ich glaube es gab kaum einen Tag, solange ich weg war, dass ich nicht mit ihnen telefoniert hatte, aber das ständige Zusammensein ist dann doch was anderes. Klar gab es jetzt auch immer mal wieder kleine Streitereien und Auseinandersetzungen, aber es wäre ja auch unnormal, gäbe es die nicht in einer Beziehung oder Familie. Aber wir rauften und raufen uns immer wieder auf’s Neue zusammen, denn nur gemeinsam sind wir stark.
Und ich merke nun auf einmal, wie wichtig mir die Nähe zu meinen Eltern ist. Es ist einfach schön, die Tage mit ihnen gemeinsam zu verbringen und es zeigt mir, wie sehr wir uns doch als Familie lieben. Und man sollte nicht dem Irrglauben verfallen, dass der oder die Demenzkranke nicht mehr merken was um sie herum los ist und wie es mit ihnen selbst steht. Ich mache immer wieder diese überraschende Feststellung, wenn meine Mutter dann auf einmal wie aus heiterem Himmel z.B. sagt: „ Ach Kind, ich glaube ich werde langsam verrückt. Bei mir im Kopf ist alles durcheinander und ich kriege gar keinen Dreh darein was da mit mir los ist.“ Sieh an, denke ich dann bei mir, sie bekommt also doch noch mit, was mit ihr los ist. Und so geht es oft. Mittendrin kommen dann manchmal wieder Sätze, woran man erkennt, dass sie sehr wohl an allem teilnimmt und auch ihre Umgebung viel mehr wahrnimmt, als wir oft denken. Und da denke ich, dass in diesem Bereich noch ein großer Bedarf an Aufklärung besteht. Es ist nicht nur die Vergesslichkeit, die diese Krankheit ausmacht. Auch Angstzustände und Panikattacken kommen immer wieder vor. Oft und besonders nachts treten diese Stimmungen auf und es kann dann schon sein, dass man als Bettnachbar die ganze Nacht kein Auge zubekommt, weil der Demenzkranke Angst hat und unruhig ist und nur durch intensive Beruhigung durch Worte und auch Streicheleinheiten langsam zur Ruhe kommt. Und in diesen Momenten kommt mir immer wieder der Gedanke. Was macht so ein Mensch, wenn er in dieser Stimmungslage im Heim untergebracht ist. Muss es nicht ganz schrecklich sein, wenn man Angst und auch Schmerzen hat, allein in einem Bett zu liegen und keiner da ist, der einen in den Arm nimmt und tröstet. Wenn man Glück hat, kommt mal eine Schwester vorbei und versucht einen zu beruhigen. Oder was ist, wenn sie nachts auf die Toilette müssen? Wir gehen 1-2 mal und manchmal auch öfter mit meiner Mutter zur Toilette nachts. Aber die Heime haben heute sowenig Personal, so dass sich um diese Dinge keiner kümmern kann. Da bekommen die Patienten Windeln und bleiben damit bis zum Morgen liegen, ob die nun voll sind oder nicht. Und wenn ich mir das vorstelle, dann bin ich froh, dass wir beschlossen haben, dass wir sie, solange es irgendwie geht zuhause pflegen.
Und obwohl man es kaum glaubt, es gibt auch viele schöne Momente während der Pflegezeit. Ich genieße die Nähe zu meiner Mutter und wenn ich ihr durch Streicheleinheiten die Angst nehmen kann, dann macht es mich auch glücklich. Und sie ist so dankbar. Für jeden Handgriff, den ich für sie tue, bedankt sie sich. Das ist sicher nicht immer üblich bei Demenz- oder Alzheimerkranken, denn ich höre auch oft von aggressiven Kranken, dass diese gewalttätig gegenüber ihren Angehörigen werden. Aber zum Glück ist das bei meiner Mutter nicht oder vielleicht auch noch nicht so. Ich denke, das hat auch ganz viel mit der Familiengeschichte zu tun. Meine Eltern waren immer zufrieden mit ihrem Leben und wenn man sie heute fragen würde, was sie denn anders machen würden, so ist ihre Antwort, dass sie ihr Leben genauso wieder leben würden, wenn sie es denn könnten. Und auch wir Kinder haben dieses Lebensgefühl von ihnen mitbekommen. Sie waren immer für uns da, wenn wir sie brauchten und wenn es Probleme gab, dann konnten wir mit ihnen darüber reden und sie haben immer geholfen, wenn es denn nötig war. Sie haben immer unser Rückgrat gestärkt und uns ein gutes Selbstbewusstsein mit auf den Lebensweg gegeben. Ich werde nie vergessen, als meine Mutter einmal zu mir sagte, dass niemand aber auch wirklich niemand das Recht hätte, mich anzuschreien, als ich einen Chef hatte, der seine Angestellten durch Geschrei klein machen wollte. Als sie das einmal am Telefon mitbekam sagte sie mir diesen Satz und gab mir den Rat, dem Chef auch genau dieses zu sagen. Ich bin dann auch bei der nächsten Schreierei zu ihm gegangen und habe ihm das gesagt und siehe da, nach diesem Gespräch war er zahm wie ein Lamm, zumindest mir gegenüber. Mir aber hatte das gezeigt, dass man sich nicht alles im Leben gefallen lassen muss und dass man vor Vorgesetzten keine Angst zu haben braucht. Es hat mich stark gemacht und das habe ich meinen Eltern zu verdanken.
Im Moment sieht es so aus, dass meine Mutter bereits die Pflegestufe 3 hat, d.h. sie kann überhaupt nicht mehr alleine sein, kann sich nicht mehr selbst versorgen und pflegen und ist im Gehen sehr eingeschränkt. Auch bringt sie die Zusammenhänge des täglichen Lebens nicht mehr auf die Reihe. Das sieht dann so aus, dass sie einen Satz anfängt, aber dann nicht weiß was sie sagen wollte und irgend etwas aus der Luft heraus erfindet, was aber in keinem Zusammenhang mit dem vorher Gesagten steht. Wir haben es uns zur Gewohnheit gemacht genauso zusammenhanglos darauf zu antworten, damit sie nicht merkt, dass sie Unsinn redet. Auch zu den Toilettengängen müssen wir sie begleiten, denn da sie sich nicht mehr in der Wohnung zurecht findet, würde sie dort alleine nie ankommen. Und sie wüsste dann auch nicht mehr, was sie dort wollte. Also gehen wir mit ihr gemeinsam dort hin, zeigen ihr die Toilette, auf die sie sich setzen soll und bleiben bei ihr bis sie ihr Geschäft verrichtet hat. Ich schreibe diese Sachen nicht auf, um hier intime Sachen von ihr preiszugeben, sondern damit man sich vorstellen kann, was auf einen zukommt, wenn man einen Demenzkranken pflegt. Das geht hin bis zum Reinigen unten herum, denn auch das können diese Menschen irgendwann nicht mehr alleine. Aber wenn man den zu pflegenden Menschen liebt, dann ist das kein Problem. Für mich und meine Familie ist es und war es nie eins. Und wenn man dann auf einmal den Satz hört: „ Ach Kind, nun weißt Du, was auf dich auch noch zukommt“, dann ist das wieder einmal so ein Moment wo man zwar lacht, aber doch im Stillen denkt, hoffentlich hilft mir dann auch ein lieber Mensch. Diese Gedanken kommen mir natürlich auch immer mehr, denn ich bin ledig und habe keinen Partner, der diese Pflege mal übernehmen könnte und auch keine Kinder. In solchen Momenten frage ich mich dann doch, ob ich etwas falsch gemacht habe in meinem Leben. Aber es gibt so viele Familien, in denen es nicht selbstverständlich ist, dass die Angehörigen den Kranken pflegen, sodass man damit eher nicht im voraus rechnen kann. Und man kann es sicher auch nicht von jedem verlangen. In wie vielen Familien geht man nicht gut miteinander um und wenn man keine Liebe von den Eltern erhalten hat, kann man nicht erwarten, Liebe zurückzuerhalten. Oder, wenn die Kinder, wie es heute üblich ist, weit entfernt von den Eltern wohnen und eine eigene Familie haben, dann ist es eben nicht so einfach ein Lösung zu finden, wie man die Pflege zuhause übernehmen könnte. Ich bin mir darüber durchaus im Klaren, dass bei mir die Umstände günstig waren, aber es gehört eben auch der Wille dazu, den Eltern etwas von der Liebe zurückzugeben, die man von ihnen erhalten hat. Und wir haben viel Liebe bekommen. Allein, wenn ich daran denke als ich mal im Krankenhaus war. Ich war im Krankenhaus, meine Eltern in Spanien. Meine Mutter war am nächsten Morgen nach der Diagnose bei mir am Krankenbett und hat mich getröstet. Sie war vorher noch nie allein geflogen, aber das war überhaupt keine Frage, zusammen konnten sie nicht sofort dort weg und so machte sie sich allein auf den Weg. Und auch mein Bruder und seine Frau waren sofort nach dem Krankenhaus-Aufenthalt bei mir und holten mich zurück nach Hause, damit ich dort weiter behandelt werden konnte. Und so war ich dann ein halbes Jahr wieder zuhause in meinem alten Mädchenzimmer und wurde von allen Familienmitgliedern auf das liebevollste betreut. Auch diese persönlichen Dinge schreibe ich hier nur, damit man vielleicht leichter nachvollziehen kann, warum ich so gerne meine Mutter pflege und sie, wenn es irgendwie geht, nie in ein Heim bringen würde. Ich weiß auch, dass man nie "Nie" sagen soll, denn man weiß nicht was noch alles passieren kann, aber wie gesagt, wir möchten sie gerne zuhause behalten und solange wir das gemeinsam schaffen können oder es mit Hilfe einer zusätzlichen häuslichen Pflegerin hinbekommen, solange bleibt sie bei uns.
Zur Zeit sieht es so aus, dass mein Vater im Krankenhaus ist. Er hat es mit dem Herzen und fühlte sich in letzter Zeit schlapp und matt. Wie lange er nun dort bleibt, ist noch nicht abzusehen. Ich bin daher zu meiner Mutter gezogen und verbringe nun 24 Stunden am Tag mit ihr. Mein Bruder unterstützt mich, soweit er kann und es geht eigentlich ganz gut. Ich muss mich nur erst einmal daran gewöhnen, dass ich nachts so wenig Schlaf bekomme. Aber auch das kriegen wir sicherlich in den Griff und wenn ich dann meine Mutter wie ein Kind streichle und im Arm halte, dann weiß ich warum ich das tue. 



©Brigitte Ehlers 2010

24.10.10

Das Paradies und die Biberratten des Herrn Hufnagel


Wenn ich heute an meine Kindheit zurückdenke, dann denke ich, dass wir Butjer in Lehe damals das Paradies auf Erden zum Spielen hatten. Es war gleich nach dem Krieg und so gab es damals natürlich noch keine öffentlichen Spielplätze. Aber wir waren viele Kinder in unserem Viertel und wir hatten auch unsere Spielplätze. Diese waren sicher nicht so perfekt wie die heutigen, aber für uns waren sie abenteuerlich, wild und sicher auch manchmal gefährlich.  Wir waren jung, unbändig und unsere Eltern hatten auch gar keine Zeit, sich dauernd darum zu kümmern wo wir waren. Die Mütter waren meistens damit beschäftigt, irgendwo etwas Essbares her-zubekommen und  die Männer mussten  arbeiten. Also suchten wir uns unsere eigenen Spielplätze in der Umgebung.  

Da war zuerst einmal der Saarpark. Im Saarpark floss die Aue, man konnte darin Stichlinge und sonstige kleine Wassertiere fangen, die dann ins mitgebrachte Marmeladenglas tun und schon hatte man ein Aquarium zuhause im Zimmer. Das ging zumindest solange gut, bis der Gestank des brackelingen Aue-Wassers der Mutter zuviel wurde und man das Marmeladenglas entsorgen musste.

Oder wir bauten Höhlen im Saarpark. Dabei kam es natürlich immer auf die Zusammensetzung der Gruppe an, die dort spielte, aber da ich als Kind immer lieber mit den Jungen herumtollte, bauten wir natürlich Höhlen für Gangster und Piraten, während die braven Mädchen immer nur Haus und Familie spielen wollten und sich dafür eine Höhle bauten. Sei’s drum, jeder machte das nach seinem Gusto und alle waren glücklich und zufrieden. Es war schon toll so einen Park zum Spielen zu haben.

Das Dollste aber überhaupt war, wenn sich die Gruppen aus den verschiedenen Straßen zu einer  „Straßenkloppe“ verabredeten und dann mit Ästen und Stöcken aus dem Saarpark aufeinander losgingen.  Aber so gefährlich das heute klingen mag, viel ist bei diesen Straßenkloppen nie passiert. Wahrscheinlich war es nur ein leichtes Säbelrasseln, denn um uns gegenseitig richtig zu verhauen, fehlte uns wahrscheinlich dann doch der Mut, waren wir doch alle noch ziemlich jung und so richtig Krach hatten wir mit den anderen ja auch nicht. Ich kann mich jedenfalls an keine einzige Verletzung erinnern und ich denke auch, dass wir damals alle viel zuviel Schiss vor unseren Eltern hatten. Denn, wenn was bei diesen Straßenkloppen passiert wäre, hätte es zuhause wahrscheinlich noch viel mehr „Kloppe“ gegeben, oder man hätte Stubenarrest bekommen und das hätte richtig wehgetan. Also brüllte man nur aufeinander ein, schlug die Stöcke wild durch die Luft und dann vertrug man sich irgendwann auch wieder miteinander.

Genauso ein Abenteuerspielplatz war der Holzplatz von Kistner  am Ende der Luisenstraße. Hier lagerten die großen Balken der Tischlerei Kistner und wir Kinder fanden es herrlich,  dort zwischen den Balken  herum-zuklettern. Auch dort bauten wir Höhlen und Verstecke, schworen uns Blutsbrüderschaften (wobei ich als Mädchen natürlich immer nur ausnahmsweise geduldet wurde) und wir machten dort unsere Mutproben. Wer z.B. auf den höchsten Holzstapel klettern konnte oder sogar dort oben balancieren konnte, ja der war schon mutig und wurde bald Anführer unserer Gruppe. Mädchen kamen da natürlich nicht in Frage, aber ich war ja plietsch und konnte mich anderweitig profilieren.

Ich kannte nämlich einen Mann, der Biberratten züchtete und das war schon etwas ganz Außergewöhnliches. Der Herr Hufnagel, so hiess der Mann, hatte eine Heißmangel auf dem Sülten und da meine Eltern dort öfter etwas mangeln liessen, musste ich manchmal dort hin und die Sachen wieder abholen. Und so lernte ich den netten Herrn Hufnagel näher kennen und der erzählte mir, dass er in seinem Garten an der Geeste Biberratten züchtete.  Wenn ich Lust hätte, könnte ich mir die ruhig mal angucken. Alleine hatte ich vor diesen Viechern natürlich viel zu viel Angst, aber das war natürlich etwas,  womit ich bei den Jungs punkten konnte. Biberratten hatten die nämlich auch noch nie gesehen, da war ich mir sicher.

Die Gärten an der Geeste kannten wir natürlich schon, stromerten wir dort doch auch immer mal entlang, klauten Äpfel am Wegesrand und schauten den Ruderern bei ihrem Training zu. Und so fragte ich dann Herrn Hufnagel, ob ich denn zu ihm auch mit meinen Freunden kommen könnte, um die Ratten anzuschauen. Natürlich sagte er und lud uns schon am nächsten Tag ein, ihn in seinem Garten zu besuchen.

Etwas mulmig war mir schon, hatte ich doch eine Riesenangst vor Ratten, denn ab und zu sah man ja schon mal eine über die Strasse laufen und ich stellte mir dann immer vor, dass sie mir über die Füsse laufen könnte und das war weiß Gott keine schöne Vorstellung. Aber ich wollte ja mutig sein und  vor meinen Freunden angeben, dass mich so eine Ratte ja nun gar nicht beeindrucken konnte. Also erwähnte ich so ganz nebenbei, dass ich jemanden kannte, der Biberratten züchtete und wir uns die ruhig mal aus der Nähe angucken und vielleicht sogar anfassen könnten. Die Neugier war groß und so zogen wir am anderen Tag zum Garten des Herrn Hufnagel, um uns die Ratten anzuschauen.

Wir staunten nicht schlecht als wir die riesigen Biberratten zum ersten Mal sahen. Sie sahen richtig gefährlich aus und vor allen Dingen hatten sie superlange orangefarbene Zähne. Diese machten uns dann doch ein bisschen Angst, so dass keiner auf die Idee kam, so ein Tier auch anfassen zu wollen. Wahrscheinlich hätte das Herr Hufnagel auch gar nicht zugelassen, aber das mussten die anderen  ja nicht unbedingt wissen.

Ich weiß noch,  dass Herr Hufnagel uns erklärte woher die Biberratten stammen und dass sie eine Größe von ca. 65 cm erreichen und zusätzlich noch einen Schwanz von 25-35 cm  haben. Das ganze machte mir diese Viecher nicht gerade sympathischer. Gut, dass sie im Gehege waren, aber die Jungs waren vollauf begeistert und von da ab war ich ein vollwertiges Mitglied ihrer Gruppe. Ich weiß aber bis heute nicht, warum der Herr Hufnagel diese Biberraten gezüchtet hat. Im Nachhinein nehme ich an, dass er sie wegen ihres Felles gezüchtet hat, aber das hat er uns damals nicht verraten.

© Brigitte Ehlers 2010

Der Polizist auf dem Ochsen

erzählt von meinem Vater Harry Ehlers, geb. 1921 in Wesermünde:


Es muss so um den Jahreswechsel 1945/46 gewesen sein als ich aus dem Krieg nach Hause
in die Hafenstrasse kam und mein Elternhaus zerbombt und ziemlich zerstört vorfand. Nun hiess es anpacken und den Wiederaufbau vornehmen, da man ja von irgendwas leben musste.
Ich lieh mir damals gegen Bezahlung und das war durchaus usus einige Strafgefangene aus dem Gefängnis in der Nordstraße aus, die mir beim Wegräumen des Trümmerschutts helfen sollten. Und wir räumten und räumten bis es eines Tages wieder einigermassen hergerichtet war und ich eine Wiedereröffnung des Fleischereigeschäftes meiner Eltern ins Auge fassen konnte. Vorher musste ich noch als gelernter Fleischermeister ein Gewerbe anmelden und dann sollte es losgehen. Aber womit fragte ich mich. Als Zuteilung für den Anfang bekam ich nur ein Schwein und ein Viertel Rind genehmigt. Das langte nicht hin und nicht her für die Herstellung und den Verkauf von Wurst- und Fleischwaren. Also, es blieb nur eine Lösung und die war, ich musste irgendwoher schwarz Vieh beschaffen. Da ich noch kein Auto hatte, blieb nur das Motorrad und so fuhr ich über Land, um irgendwo Vieh aufzutreiben. In Lintig
hatte ich dann endlich Glück und erstand bei einem Bauern einen Ochsen. Da das Ganze still und heimlich von statten gehen musste, wurde der Ochse nachts in der Scheune geschlachtet und dort auch zum Auskühlen aufgehängt. Am folgenden Abend fuhr ich dann mit einem geliehenen Auto von der Militärregierung, zu der ich einen guten Draht hatte, nach Lintig um das Tier, dass wir natürlich vorher zerlegten, abzuholen. Als wir das Fleisch dann verstauen
wollten, merkten wir, es passte nicht alles in den Kofferraum und so wurde nicht lange gefackelt und ein Teil des Fleisches landete unter der hinteren Rückbank. Das Polster
wurde sorgsam auf das mit einer Decke umwickelte Fleisch gelegt und so musste es gehen.

Meine Frau, die an der ganzen Aktion beteiligt war, hatte den Auftrag, vorneweg mit dem Motorrad zu fahren, um nach Polizeikontrollen, die damals überall unverhofft stattfanden Ausschau zu halten und uns dann gegebenenfalls zu warnen. Aber wie der Teufel es will, die Vorhut half nichts und plötzlich wurden wir von einer Polizeistreife angehalten.

Was nun, dachte ich, wenn die rauskriegen, dass Du schwarz geschlachtet hast und auch noch mit einem amerikansichen Wagen das Fleisch transportierst, dann hätten sie mich gleich einkassiert. Und da ich mit einem amerikanischen Wagen unterwegs war, blieb mir nichts anderes übrig als einen Amerikaner vorzutäuschen. Ich holte mein bestes Englisch raus und sprach mit dem Beamten, wobei ich mir sicher war, dass der nur Bahnhof verstand. Aber wenn der Wurm irgendwo drin ist, dann bleibt er auch drin und so fragte mich der deutsche Polizeibeamte mit ein paar Brocken Englisch, ob ich nicht seinen Kollegen mit in die Stadt nehmen könnte. Mir blieb nur „Yes“ zu sagen und ihn hinten einsteigen zu lassen. Von der Minute an sprach ich kein einziges Wort mehr und betete nur, dass er nicht merkte, dass er auf einem schwarz geschlachteten Ochsen in einem amerikanischen Wagen mit einem deutschen Fahrer saß. Nach ca. 20 Minuten, ich hatte allerdings das Gefühl es waren Stunden, kamen wir in Lehe in der Spadener Strasse an, als er mich bat anzuhalten, um auszusteigen.

Ich glaubte damals er müsste es beim Aussteigen gehört haben, was für ein grosser Stein mir
vom Herzen plumpste, als er endlich aus dem Wagen war. Ob er es gemerkt hat, dass irgend
etwas nicht stimmte, habe ich nie erfahren. Vielleicht war er aber ebenso froh, schnell nach Hause gekommen zu sein, wie ich, dass ich nicht im Gefängnis gelandet bin, denn das wäre
der Preis der ganzen Geschichte gewesen.

©Brigitte Ehlers 2010

Die starken Werftarbeiter

erzählt von meinem Vater Harry Ehlers, geb. 1921 in Wesermünde:

Es muss ca. 1931/32 gewesen sein als wir auf einmal Lärm- und Hilferufe von der Hafenstrasse hörten. Meine Eltern liefen sofort auf die Strasse, um zu sehen was passiert war.
Ich als kleiner Junge hingegen, musste oben in der Wohnung bleiben. Sofort holte ich mir
einen Hocker, um das Geschehene vom Fenster aus zu beobachten. Was war das für ein Lärm und Geschrei dort unten, die Leute liefen hin und her und irgendwie begriff ich, dass dort ein Unfall mit der Straßenbahn passiert sein musste. Es war wohl so, dass jemand von der Straßenbahn überfahren worden war, aber man nicht helfen konnte, weil man an den gegenüberliegenden Bekleidungsgeschäft Verletzten nicht herankam. Der einzige, der sofort das Richtige tat war Herr von der Heide. Der rannte so schnell er konnte zur Unterweser-Werft, die ca. 600 m von der Kreuzung entfernt war, um dort Hilfe zu holen.
Und es kam Hilfe. Im Laufschritt kamen wohl ca. 50 Werftarbeiter zur Unfallstelle und hoben
mit gemeinsamer Kraft den Straßenbahnwagon so hoch, dass man das Unfallopfer bergen konnte. Da erst konnte ich sehen, dass es sich bei der Überfahrenen um ein kleines Mädchen handelte.
Meine Eltern, die zu der Zeit, die einzigen in der Umgebung waren, die ein Telefon hatten, hatten sofort bei der Polizei den Unfall gemeldet (einen Notruf gab es damals wohl noch nicht) und den Unfall gemeldet. Nach kurzer Zeit kam denn auch ein Krankenwagen d.h. es war ein Wagen mit 2 Pferden davor, der als Krankenwagen diente. Dieser brachte das kleine Mädchen ins Krankenhaus. Wie es dann weiterging, ob das Mädchen wieder gesund wurde oder nicht, das habe ich nie erfahren. Aber ich musste oft in meinem Leben daran denken, was man schaffen kann, wenn alle zusammen mit anpacken und nur ein Ziel verfolgen. Hier hatten die Werftarbeiter wahrscheinlich gemeinsam ein Leben gerettet.

© Brigitte Ehlers 2010

20.8.06

Vollmond in Bremerhaven

Nun war ich schon einige Wochen im Taxigeschäft als sogenannte "Ratte" tätig. So nennt man die Aushilfsfahrer im Taxigewerbe und sie sind von den festangestellten Taxifahrern nicht immer gern gesehen. Aber das störte mich nicht, ich hatte meinen momentanen Traumjob! Ich konnte jeden Abend das Taxi abholen und soviel oder sowenig fahren wie ich wollte. Der Eigentümer freute sich, wenn überhaupt nachts gefahren wurde, denn sonst stand bei ihm der Wagen nachts in der Garage. Und ich hatte schnell rausbekommen, dass es wesentlich spannender war, nachts Taxi zu fahren als tagsüber. Tagsüber fuhr man hauptsächlich die Leute von einem Arzt zum anderen und auch sonst war die Kundschaft nicht aufregend. Aber in der Nacht war alles viel aufregender. Es war auch noch nicht so gefährlich nachts zu fahren. Heute würde ich das nicht mehr machen. Es lag aber auch an der Unbekümmertheit meiner Jugend, dass ich keine Angst hatte und es als Abenteuer sah, nachts durch die Stadt zu fahren und Leute aus den verschiedensten Schichten kennenzulernen und zu beobachten. Und es war wirklich spannend! Was man da alles erleben konnte. Es war eine Schule des Lebens für mich. Wo konnte man sonst Menschen so hautnah erleben?

Am spannendsten war es immer, wenn Vollmond war. Das merkte man ganz schnell. Es war als spielten alle Leute verrückt. Die Fahrgäste waren nervös, aggressiv und nörgelten wegen jeder Kleinigkeit. Sofort wusste man, heute muss Vollmond sein und wenn man dann zum Himmel guckte bestätigte sich diese Annahme meistens auch sofort. So war es auch an diesem Tag als ich wieder meine Nachtschicht begann. Ich war guten Mutes und freute mich über die erste Tour, die nicht lange auf sich warten liess. Ich wurde zu einer Kneipe gerufen und ein junger Mann setzte sich zu mir in den Wagen. Er sah nicht unfreundlich aus, sagte aber weder Guten Abend noch Hallo, sondern nur: "Geradeaus". Ich wunderte mich, aber ich fuhr erst einmal los.
Ich war schon vorgewarnt worden von den Kollegen: Heute ist wieder Vollmond, da können wir wieder was erleben. Na ja und nun hatte ich so einen Kandidaten im Auto. Nach "Geradeaus" folgte: "Rechts rum" und danach wieder "Rechts" und dann noch einmal "Rechts". Ich hatte keine grosse Lust zum Diskutieren und so fuhr ich so, wie der Fahrgast es verlangte und auf einmal standen wir wieder vor der Kneipe, aus der er herausgekommen war. Der Fahrgast guckte mich freundlich an und sagte: "Und das war nur zur Probe". Er bezahlte, stieg aus und ging wieder in die gleiche Kneipe rein. Na ja, es war eben Vollmond und das war nur der Anfang.

Ein paar Touren später stieg ein Pärchen in den Wagen. Er setzte sich auf den Beifahrersitz, sie hinten auf den Rücksitz. Sie fuhren los und er schaute mich an und sagte immer wieder: "entzückend" und dann wieder "entzückend". Nach dem dritten "entzückend" drehte ich mich zu der Partnerin um und fragte: "Hat Ihr Mann das öfter? "Ja, ja sagte die Frau, bei Vollmond ist der immer so komisch, aber denken Sie sich nichts dabei, es gibt Schlimmeres". Na ja, wenn man es sich überlegte hatte die Frau Recht. Er war nicht frech geworden und wenn einer "entzückend" zu einem sagt, kann man damit leben. Zumindest in einer Vollmondnacht.

Der Clou in dieser Nacht stand aber noch bevor. Ich hatte ziemlich viel zu tun und auf der Rückfahrt von Langen nach Lehe wurde ich wieder zu einer Kneipe gerufen. Der neue Fahrgast war eine Frau und die war ziemlich angetrunken. Das war für mich nichts Aussergewöhnliches, damit hatte man als Taxifahrerin besonders nachts öfter zu tun, aber die Frau war ziemlich elegant angezogen und ich war verwundert, dass sie so betrunken war. Die arme Frau dachte ich, die hat heute ihren Moralischen, betrinkt sich und gibt ihr ganzes Haushaltsgeld dabei aus und morgen kommt der grosse Katzenjammer. Irgendwie hatte ich Mitleid mit der Frau und redete auf sie ein, dass es doch besser wäre, nach Hause zu fahren und nicht in die nächste Kneipe. Davon war die Frau aber nicht zu überzeugen, sie wollte mir aber etwas Gutes tun, weil ich mir doch ihre ganzen Probleme angehört hatte und drückte mir so DM 500,-- in die Hand mit der Bemerkung: "Sie sind so nett, sie sollen sich auch einen schönen Tag machen und ich gebe das Geld sowieso nur in der nächsten Kneipe aus". Diese Gefahr sah ich allerdings auch, aber ich wollte das Geld nicht annehmen. Doch die Frau bestand darauf und da ich mir ziemlich sicher war, dass das Geld sonst in der nächsten Kneipe blieb, steckte sie es erst einmal ein. Die Frau ging in die Kneipe und ich überlegte, was ich nun tun sollte. Dass ich das Geld nicht behalten würde, war mir ziemlich schnell klar, denn ich hatte immer noch das Gefühl, die Dame würde das Geld am nächsten Tag schmerzlich vermissen, denn eigentlich machte sie einen soliden Eindruck. Ich fuhr zur Taxi-Zentrale und gab das Geld dort ab. Ich erzählte von der Frau, hoffte, dass sie sich am nächsten Tag meldete und fuhr weiter meine Nachtschicht. Zwischendurch machte ich mit anderen Kollegen eine Kaffeepause und erzählte von dem Erlebnis mit den DM 500,--. Die hielten mich alle für verrückt. Wie kann man so blöd sein und das Geld abgeben. Die hätte doch sonst auch alles versoffen. Aber ich hätte das nicht gekonnt. Ich sah immer die Frau am nächsten Tag mit ihrem Katzenjammer vor sich.
Die Nachtschicht ging weiter und auf einmal bekam ich einen Ruf von der Zentrale, ich möchte doch bitte dort vorbeikommen. Als ich eintraf, sass dort ein aufgebrachter Ehemann, dessen Frau behauptete, eine Taxifahrerin hätte ihr DM 500,-- gestohlen. Gott sei Dank hatte ich aber das Geld in der Zentrale abgegeben und so konnte die Behauptung schnell widerlegt werden. Aber der Mann sagte auch, dass seine Frau schon lange eine Alkoholikerin ist, die immer wieder das ganze Geld vertrinken würde. So kann man sich täuschen, dachte ich noch und nachdem sich der Mann bedankt hatte, fuhr ich weiter in die Nacht hinaus und dachte: Was nun wohl noch kommt, ist ja Vollmond."

© Brigitte Ehlers 2010

19.8.06

Hallo Taxi,

Es war wieder soweit, Semesterferien! Ein Job musste gefunden werden und es sollte wie die anderen zuvor ein interessanter Job sein. Ganz normale Jobs waren nichts für mich, nein ein bisschen Nervenkitzel musste schon dabei sein. Hatte mein Vater mir nicht immer erzählt, wieviel Spass ihm das Taxifahren kurz nach dem Krieg gemacht hatte und was er dabei alles erlebt hatte. Und Autofahren machte mir schon immer Spass. Hatte ich doch schon im Teenager-Alter mit dem Wagen meines Vaters in der Wallachei üben dürfen und dabei viel Spass gehabt, aber auch einigen Ärger, weil ich meinen Freundinnen auch das Autofahren beibringen wollte. Aber davon später. Ja, Taxifahren, das war es. Nur wie kommt man schnell zu einem Taxi-Schein? Na ja, das kann ja nicht das schwierigste sein. Gesagt, getan, auf zum Strassenverkehrsamt und fragen, wie man zu so einem Schein kommt. "Ja, junge Dame, das dauert mindestens 6 Monate bis Sie so einen Schein bekommen können und vorher müssen Sie sich auch noch gründlich auf die Ortskenntnisprüfung vorbereiten." Nein, das kam für mich nicht in Frage! "In sechs Monaten brauche ich den Job nicht mehr, das ist zu spät", antwortete ich dem netten Herrn von der Dienststelle. "Wer ist denn hier zuständig für diese Prüfungen?"
"Ja, ich" sagte der Herr. "Nun dann könnten Sie mich doch auch jetzt gleich prüfen und dann könnte ich den Job doch noch in diesen Ferien machen". Ich sagte das eigentlich nur im Spass, aber der Mann war so überrascht, dass er kurz überlegte und dann sagte: Ja, das könnte ich!
Es schien, als würde er stolz über seine Befugnisse sein. Er war der Chef und ihm gefiel wie diese junge Dame sich über alle Richtlinien wegsetzte und tat als sei es das Selbstverständlichste der Welt mal eben an einem Tag den Taxischein zu erwerben. Soviel Unbekümmertheit war er nicht gewohnt und ihm gefiel es. "Ja, dann prüfen Sie mich doch mal eben", sagte ich, obwohl ich natürlich völlig unvorbereitet war. Aber nun hatte ich den Stein ins Rollen gebracht und nun musste ich da durch, wie auch immer. Prüfungen waren noch nie mein Ding, aber wenn schon, dann war plötzlich und unvorbereitet immer noch besser als anders. Man würde sehen, was dabei rauskam. Und zu meiner grossen Überraschung sagte der Herr vom Strassenverkehrsamt: "Ja, dann gehen wir es an und ich prüfe Sie jetzt!" Oh Mann, auf was hatte ich mich da eingelassen? Das konnte ja eigentlich nur schief gehen, aber wie gesagt, erst die grosse Klappe haben und nun klein beigeben. Nein, das war nicht meine Art. Und Prüfungen nicht bestehen, das kannte ich auch schon, es konnte also gar nicht so schlimm werden. Der Mann machte ein wichtiges Gesicht und schon ging es los. "Fahren Sie den kürzesten Weg von der Neuen Strasse zur Veerenholzstrasse". Oh oh, das war ganz schön schwer, aber die Neue Strasse kannte ich, weil ich aus Lehe kam und in der Veerenholzstrasse kannte ich auch jemanden der dort wohnte. Glück gehabt, so ein Zufall, aber konnte es so weitergehen? Es ging so weiter und ich hatte unwahrscheinliches Glück. Ein paar Fragen beantwortete ich falsch, aber man konnte sich einige Fehler erlauben und der Rest war richtig beantwortet. Der Prüfungsmann war sichtlich beeindruckt und konnte es selbst wohl nicht fassen, als er sagte: "Ja, Sie haben die Prüfung bestanden und wenn die weiteren Formalitäten erledigt sind, können Sie bald Taxi fahren." Ich jubelte vor Freude und bedankte mich überschwenglich. Na ja und das bisschen was an weiteren Formalitäten noch fehlte, könnte ja auch nicht so schwer zu besorgen sein. Da war die amtsärztliche Untersuchung und das polizeiliche Führungszeugnis und die Auskunft aus Flensburg, ob irgendetwas gegen mich vorlag. Ich machte sich gleich auf den Weg zum Gesundheitsamt und erfuhr, dass der zuständige Arzt noch 3 Wochen in Urlaub war. Aber was für ein unglaublicher Zufall, die Sekretärin des Arztes war die Mutter einer ehemaligen Klassenkameradin und die war sofort bereit zu helfen und besorgte einen Termin am nächsten Tag bei der zuständigen Vertretung. Das pol. Führungszeugnis war auch schnell beantragt und die Auskunft aus Flensburg konnte man doch auch telegrafisch anfordern. Es flutschte nur so und als wenn es nicht anders sein sollte, ich hatte nach 2 Tagen den Taxischein in meiner Hand und der aufregende Ferienjob konnte los gehen. Wie sagt man doch immer: Wo ein Wille, da ein Weg und dieser Spruch stimmte, jedenfalls sah ich es von nun an so.

© Brigitte Ehlers 2010